Ein halbes, ganzes Leben.

Fehlt die Hälfte von einem Ganzen, ist es dann auch nur halb? Verdient das Halbe nicht mehr dieselbe Bezeichnung oder Berechtigung wie das Ganze? Kann man zum Beispiel einen Tisch noch als solchen bezeichnen, wenn ihm Beine fehlen? Und wie ist das beim Menschen? Spricht man diesem einen Teil seiner Menschlichkeit ab? Natürlich nicht, mag der geneigte Leser sich jetzt entrüstet denken. Mensch bleibt, was Mensch ist, ob mit oder ohne Beine. Ist das so?

Wenn Silke Naun-Bates alle paar Jahre bei der deutschen Gesundheitskasse um Kostenzuschuss für ihre Rutschhosen ansucht, kommt postwendend die Frage: Brauchen Sie die denn? Wozu eigentlich? Schicken Sie doch mal ein Foto von sich. „Wie hätten Sie mich denn gerne am Foto“, fragt Silke dann sarkastisch. „Von oben, von unten, von hinten, angezogen oder nackt?“ Oh, man hätte ihr keinesfalls zu nahetreten wollen. Aber ob sie diese Hosen denn wirklich brauche? „Natürlich nicht“, ist Silkes lapidare Antwort. Sie könne auch gerne ihr Leben lang im Bett liegen bleiben. 

Dieses Beispiel aus Silkes Leben zeigt, dass halb eben nicht ganz ist. Das Halbe versteht man nicht, kann es nicht ein- oder zuordnen. Die bloße Existenz allein reicht offenbar nicht für die Existenzberechtigung. Und genau diese Berechtigung – dass sie Mensch ist und sein darf –spricht man Silke ab, wenn man es ihr verunmöglicht, ihr Leben zu führen. Wenn man sie zu einer Bittstellerin degradiert. Das ist würdelos. Und für das Menschsein, darüber dürfte allgemeine Zustimmung herrschen, ist Würde existenziell.

 

Halbe Rechte.

Sike war acht Jahre alt, als sie ihrem Hund über die Bahngleise hinterherrannte. Den Zug sah sie nicht. Er nahm ihr die Hälfte ihres Körpers. Um ihr Leben zu retten, wurden ihr beide Beine amputiert – komplett bis an die Hüft- und den Schambeinknochen. Eben diese Knochen bilden heute in der Vertikalen ihren Boden. Und genau deshalb braucht sie ihre Rutschhosen, denn die Knochen sind nicht von dämpfendem Körperfett umhüllt, sondern jedem Kontakt und Stoß quasi schutzlos ausgeliefert. 

An den Unfall kann Silke sich nicht erinnert, an die Zeit danach schon. „Mein Leben war immer noch dasselbe. Ich war immer noch Silke und habe mich selbst auch nicht anders empfunden. Für meine Eltern war das sicher anders.“

Als sie nach dem Klinikaufenthalt in die Rehabilitation nach Münster kam, hat man ihr die speziell Rutschhose gefertigt, damit sie sich überhaupt bewegen konnte. Und damit war das seit jeher enorm bewegungsfreudige Kind nicht mehr zu halten. Silke begann damals, ihre Arme zu nutzen, um sich fortzubewegen, weil der Rollstuhl für sie in vielerlei Hinsicht eine Einschränkung darstellt – sowohl körperlich als auch im Kopf. Ihrem Vater war das peinlich, das Kind, das auf Händen läuft. Natürlich ist der Anblick im ersten Moment befremdlich. Doch fremder ist Silke immer der Rollstuhl geblieben – der gehört schließlich nicht zu ihrem Körper. Und er tut ihr weh. Das lange Sitzen fördert die Bildung von Druckstellen. Die ständige Belastung ihrer Arme und Schultern hingegen belastet die Gelenke enorm. „Ich habe ein Hybrid-Handbike, also eins mit elektrischer Unterstützung, beantragt, weil die Sehne meiner Schulter ab ist und ich dadurch weniger Kraft habe. Das Hybrid-Handbike, das mir durch seinen elektrischen Antrieb enorm viel Kraftaufwand durch Belastung meiner Arme ersparen und meine Muskeln und Sehnen schonen würde, wurde aber abgelehnt. Aber nicht etwa aus medizinischen oder sonstigen relevanten Gründen, sondern weil ich mit dem Elektro-Antrieb genau schnell wäre wie ein Fahrradfahrer und auch die dieselben Strecken zurücklegen könnte.“

(Anmerkung: Silke bekam ihr Bike am Ende doch bewilligt, nämlich, als das zuständige Amt seitens des Sanitätshauses darauf hingewiesen wurde, man möge doch einfach mal den Namen Silke Naun-Bates googeln – anschließend folgte die Bewilligung. Fraglich ist, was passiert, wenn der Name kein so bekannter ist)

Wir sind damit wieder beim Thema halb und ganz. Hat ein halber Mensch nur die halben Rechte? Darf er sich nur halb so schnell und halb so weit bewegen, halb so viel essen, halb so viel leben?

Silke jammert nicht. Ganz im Gegenteil. Sie ist durch und durch optimistisch, hat enorm viel Humor und ist felsenfest davon überzeugt, dass jeder Mensch seines eigenen Glückes Schmied ist. „Es geht immer weiter. Und wie es weiter geht, das entscheide immer ich. Genau das sage ich auch meinen beiden Kindern.“

 

Silke 2

 

Überführt.

Dass sie überhaupt Kinder haben konnte, wusste sie damals nicht. Als sie schließlich heiratete, bestätigte ihr ein Arzt entgegen dem, was man ihr mitgeteilt hatte, dass sie sehr wohl schwanger werden könne, es sei aber natürlich ein Risiko. Silke scheut keine Risiken, denn dazu müsste sie mutlos sein – und sie ist alles andere als das. Ihre zwei Kinder kamen gesund per Kaiserschnitt zur Welt. Sie hat jedes Urteil, das damals über sie und ihr künftiges Leben gefällt wurde, revidiert: nicht heiratsfähig, ein lebenslanger Pflegefall, Arbeit und eigene Kinder undenkbar. Silke hat alles geschafft, einfach, weil es für sie selbstverständlich war, das zu tun. Sie lebt eben einfach genauso wie alle anderen. Aber Moment, vielleicht eben nicht wie alle anderen. „Mein Anliegen ist es, mehr Bewusstsein zu schaffen. Wir müssen lernen, uns selbst zu lenken – unsere Emotionen und Gedanken.“

Silkes Traum war es, als Streetworkerin zu arbeiten. Man sagte ihr aber, dass dieser Beruf für nicht möglich wäre, also studieret sie eben nicht Sozialpädadogik, sondern wurde Bürokauffrau. Der Wunsch, dennoch in im sozialen Bereich arbeiten zu können ließ sie aber nie los. Und eines Tages sagte jemand zu ihr: Wenn Sie das wollen, warum bewerben Sie sich nicht einfach. Was ich kann, können Sie doch auch? Stimmt. Also tat sie es und bekam den Job als Seminarleiterin in der Jugend und Erwachsenenbildung für Menschen mit körperlichen Einschränkungen, wurde schließlich stellvertretende Geschäftsführerin und war anschließend in einer Beschäftigungsinitative für Langzeitarbeitslose tätig. 2015 kündigte sie. Eine behinderte Frau, die kündigt, wo gibt es denn sowas, musste sie sich damals anhören. Halbes Leben, halbe Rechte – wieder mal. Silke war das egal, sie machte sich selbständig. Und sie begann zu schreiben, Vorträge zu halten. Und Menschen zu inspirieren.

„In Situationen, die schwierig werden könnten, hole ich jene Menschen mit ins Boot, die diese Schwierigkeiten ausräumen können. Ich tue das, indem ich sie frage: ,Das muss doch möglich sein, wie kriegen wir das hin?‘ Ich frage nicht danach, was ich tun muss, sondern wie wir es möglich machen. Und meistens klappt das auch, weil es eine Art persönliche Aufforderung ist.“ Wenn manche sich dennoch quer stellen – und das kommt natürlich vor –, dann ist Silke eben die Behinderte und spielt das auch aus. „Das bin absolut nicht ich, aber es gibt Menschen, die wollen das Opfer sehen. Und wenn es meinen Zwecken dienlich ist, dann bekommen sie das Opfer auch. Das Leiden muss ich zu manchen Zwecken lernen, sonst bekomme ich die Dinge nicht, die ich brauche – gerade bei Ämtern und Krankenkassen.“

Ob es denn etwas gibt, was sie getan hätte in ihrem Leben, wenn ihre Beine noch da wären? „Ich wäre wahrscheinlich als Rucksacktouristin um die Welt gereist und auf Berge geklettert. Der sportliche Bereich war immer meins. Ich hatte darin auch viel Talent und wäre wahrscheinlich auch in den Extremsport gegangen. Aber das war – auch wenn es natürlich möglich gewesen wäre –dann kein Thema mehr für mich. Vielleicht auch deshalb, weil mein ganzes Leben Extremsport ist.“

 

Kurzvorstellung: Silke Naun-Bates – Autorin & Referentin

Im Alter von acht Jahren wurden Silke zur Erhaltung ihres Lebens beide Beine amputiert. Allen Beteiligten war damals klar. Silke gehört ab jetzt in die Schublade 'körperbehindertes Neutrum'. Ein Leben als Frau, Partnerin, geschweige denn Mutter wird für sie unmöglich sein, an Beruf und Arbeit gar nicht erst zu denken.

Heute blickt Silke dankbar auf die Begrenztheit der damaligen Überzeugungen zurück, die sie dazu verführten, das Gegenteil zu beweisen.
Nach einer Ausbildung zur Bürokauffrau arbeitete Silke Naun-Bates die ersten 15 Jahre als kaufmännische Sachbearbeiterin. Nach einer beruflichen Neuorientierung und diversen Weiterbildungen unterstützte Silke Naun-Bates als Seminarleitung und Führungskraft junge und erwachsene Menschen, mit einer körperlichen oder psychischen Einschränkung auf ihrem Weg in die Arbeitswelt.

Seit 2015 ist Silke Naun-Bates als Autorin und Referentin tätig. Sie hat vier Bücher veröffentlicht, schreibt Artikel für Online-Magazine, hält Lesungen und Vorträge und steht als Interviewpartnerin bei Galas, Talkshows und Kongressen zur Verfügung.

Ehrenamtlich unterstützt sie seit 2019 Menschen aus Krisen- und Kriegsgebieten auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland Fuß zu fassen.

Ihr Kernanlegen ist es, Menschen daran zu erinnern, dass stets mehr möglich ist, als es auf den ersten Blick erscheinen mag.

http://silkenaunbates.com/