Unaufhaltbar.

Würde Stephanie Pletzenauer heute geboren werden, wäre sie ein anderer Mensch – eine einzige Infusion würde ihr ganzes Leben von Grund auf verändern. Sie könnte laufen und tanzen, selbst essen und mit ihren Händen schreiben, sie wäre nicht auf Hilfe angewiesen. Nur eine Infusion, und alles wäre anders. Doch damals gab es noch kein Mittel gegen spinale Muskelatrophie.

Überlebt.

Die Erkrankung wurde bei Stephanie im Alter von eineinhalb Jahren festgestellt. Von Jahr zu Jahr nahm sie dem Mädchen ein Stück mehr ihrer körperlichen Freiheit. Als sie 14 war, konnte sie nicht mehr selbständig essen oder trinken. Zu diesem Zeitpunkt wurde der Fieberbrunnerin bewusst, dass sie nie mehr ohne fremde Hilfe leben würde können. War sie damals verzweifelt? Mit Sicherheit. Es ist eine Sache, mit einer Behinderung zur Welt zu kommen – es ist eine andere, erleben zu müssen, wie man immer mehr Kontrolle über den eigenen Körper verliert. Bis zur Pubertät schritt die Erkrankung immer weiter fort. Dann verlangsamte sie sich, schließlich stoppte sie. Hoffnung gaben die Ärzte Stephanie seit jeher wenig. Sie war bereits mit drei Jahren totgesagt, dann mit 12. Vielleicht noch ein paar Jahre, hieß es dann immer wieder. Im März 2022 wird sie 30. Stephanie lacht, wenn sie an die Prognosen denkt. Sie hat sie alle überlebt.

Seit einigen Monaten bekommt Stephanie ein neues Medikament, das den weiteren Verlauf der Erkrankung stoppen soll. Eine Heilung ist nicht möglich, aber eine dauerhafte Zäsur. Hadert sie damit? Findet sie den Gedanken unerträglich, dass die Erkrankung bei jenen, die heute damit geboren werden, durch eine Behandlung vollständig symptomfrei ist?

„Nein“, sagt Stephanie. „ohne die Krankheit wäre ich nicht der Mensch, der ich bin. Und ich mag mich so, wie ich bin. Auch wenn es heute eine Möglichkeit der Heilung gäbe, würde mich diese Freiheit, mit der ich dann konfrontiert wäre, komplett überfordern.“


Stephanie 2

 

Teil sein.

Zwei Wochen vor dem ersten Lockdown im Frühjahr 2020 schloss Stephanie ihr Jusstudium an der Uni Innsbruck ab. Bereits als kleines Kind war das ihr Wunsch – und sie hat dieses Ziel nie aus den Augen verloren, wie schwierig die Umstände auch waren. Denn das Studium war eine Herausforderung, und zwar vor allem in organisatorischer Hinsicht. Die Fahrerei zwischen Fieberbrunn und Innsbruck war mühsam, alles musste bis ins letzte Detail durchgeplant werden. Ohne ihre persönliche Assistenz ist für Stephanie ein normales Leben nicht möglich. Und Stephanies Leben ist noch dazu alles andere als normal, sondern prallvoll. Sie ist Gemeinderätin in Fieberbrunn und EU-Gemeinderätin, außerdem Regionalobfrau der JVP im Pillerseetal sowie Obfrau-Stellvertreterin der VP-Frauen. Politik ist Stephanie wichtig, denn zum einen hat sie viel zu sagen, zum anderen kann sie genau hier Einfluss nehmen. Denn das ist in vielen Belangen notwendig, insbesondere für Menschen mit Behinderung. „Man muss doch etwas tun können, um Dinge zu verändern“, war der Antrieb, der sie seinerzeit zum Studium der Rechtswissenschaften brachte und er ist es heute noch, wenn sie über Themen wie Barrierefreiheit, Inklusion, das Aufbrechen von Grenzen, die in Wahrheit keine sind. Denn behinderte Menschen sind oft weniger durch ihre Behinderung eingeschränkt, als vielmehr durch die Gesellschaft. Dabei ist es gerade die Teilhabe an der Gesellschaft, die für Stephanie Freiheit bedeutet. Teilhabe bedeutet nicht Duldung, bedeutet nicht Mitleid. Teilhabe bedeutet ebenso wenig, reiner Nutznießer zu sein. Teilhabe meint genauso, Verantwortung zugestanden zu bekommen und diese auch zu übernehmen. Das tut Stephanie – vermutlich mehr als so manche Menschen, die weit größere Freiheiten genießen, und dadurch weit umfangreichere Möglichkeiten der Teilhabe hätten.In wenigen Wochen bezieht Stephanie ihre erste eigene Wohnung. Sie freut sich unbändig auf diese neue Freiheit, auf ihr eigenes Reich, in das vorerst auch ihr Freund noch keinen Eingang findet. Bevor sie ans Zusammenziehen denkt, will sie ihre Möglichkeiten der Selbständigkeit erkunden und ausleben. Wie eine ganz normale, selbstbewusste und starke junge Frau das eben macht: Ihre Erkrankung lässt sich stoppen – Stephanie selbst nicht.

 

Lebenslauf

Stephanie Pletzenauer wurde am 16. März 1992 geboren und lebt in Fieberbrunn. Mit 1,5 Jahren wurde die Diagnose Spinale Muskelatrophie gestellt, wodurch sie körperlich stark eingeschränkt ist. Sie selbst ist aber der Überzeugung, dass nie ihre Behinderung ihre tatsächliche Einschränkung war, sondern Umstände, die von Menschen gemacht wurden. So maturierte sie an der HAK Kitzbühel und absolvierte erfolgreich das Jus-Studium in Innsbruck. Die Juristin ist zudem Gemeinderätin in Fieberbrunn und damit eine von wenigen mit Behinderung in ganz Österreich. In ihrer Freizeit genießt sie das Leben durch und durch, am liebsten mit ihrer Familie und Freunden gemeinsam.