"Was im Leben wirklich zählt"

Marianne Hengl im Interview mit Benni und Marlies Raich für die Salzburger Nachrichten

Ein Gespräch über behinderte Menschen in der Gesellschaft, Berührungsängste, Erziehung und das Leben während und nach der Skikarriere.

was zaehlt im leben wirklich marlies und benni raich im gespraech 41 72581362Sportredakteur Christian Mortsch, hat das Interview für die Salzburger Nachrichten niedergeschrieben.

Hengl: Jeder Mensch ist anders. Auch behinderte Menschen kann man erst kennenlernen, wenn man sie unvoreingenommen von verschiedenen Seiten beleuchtet. Wo gibt es Berührungsängste in eurem Leben?

Marlies Raich: Das sind meist Situationen, die man nicht kennt oder die einem fremd sind, dort hat man zumeist Berührungsängste. Ich war bei den Special Olympics in Schladming und habe mich zuvor auch gefragt ’Wie gehe ich mit meinen Sportkollegen um und wie wird das Aufeinandertreffen sein?’ Die ungehemmte Freude der Athlethen war so überwältigend, dass ich diese Berührungsangst sofort abgelegt habe. Genannte Begegnung war für mich ein sehr schönes und prägendes Erlebnis.

Benjamin Raich: Ich war schon als junger Sportler immer wieder mal im Elisabethinum in Axams (Förderzentrum für mehrfach behinderte Kinder, Anm.). Dort und auch danach habe ich die Erfahrung gemacht, dass diese Menschen extrem locker sind im Umgang mit ihrer Behinderung. Da rennt der Schmäh und die Selbstironie, das würde man nicht für möglich halten. Spätestens dann habe ich diese Berührungsangst abgelegt. Im Alltag gibt es leider viel zu wenig Möglichkeiten Menschen mit Behinderungen näher kennen zu lernen. Das muss man leider sagen.

Hengl: Das macht mich hellhörig.

Marlies Raich: Dabei kann man sehr viel lernen von diesen Menschen. Zum Beispiel was den Umgang mit Emotionen betrifft. Da versuchen wir uns oft gefiltert darzustellen. Viele Sportler mit einer kognitiven Behinderung, wie ich in Schladming gemerkt habe, denken da gar nicht darüber nach. Deren Gefühle waren schön und ehrlich.

Benjamin Raich: Ich will nicht sagen, dass Menschen mit Behinderungen versteckt werden, aber in der Gesellschaft sind sie immer noch nicht so präsent. Das ist schade und das, finde ich, gehört geändert.

Hengl: Was könnte man in dieser Hinsicht besser machen?

Benjamin Raich: Es müssen von allen Seiten Begegnungsmöglichkeiten geschaffen werden. Zum Beispiel wenn die Barrierefreiheit gegeben ist, dann haben es behinderte Menschen leichter an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Andererseits musst du als Mensch mit einem Handicap auch selbst in die Offensive gehen um diese so genannten Berührungsängste abzubauen. Beide Seiten sind gefordert „die behinderte Welt“ zu verbessern. Egal in welchem Bereich, ob im Sport oder eben auch wenn es um eure Rechte geht. Ihr müsst gemeinsam an einem Strang ziehen und hartnäckig sein.

SN: Müssen Unternehmen nicht ohnehin eine Quote an behinderten Mitarbeitern erfüllen?

Hengl: Müssten sie, ja. Aber diese Quoten werden leider bei weitem nicht erfüllt. Dabei gäbe es durchaus Unternehmen, die Menschen mit einer Behinderung eine Chance geben wollen, aber die Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden lässt oft sehr zu wünschen übrig. Diese nicht zufrieden stellende Erfahrung habe ich in vielen österreichischen Bundesländern gemacht. Dabei bleibt der behinderte Mensch auf der Strecke und die Unternehmer werden dann oft zu Unrecht „an den Pranger gestellt“.

Hengl: Wir haben keinen Anspruch auf ein Leben frei von Hindernissen und Rückschlägen. Welche Herausforderungen im Leben haben es euch besonders schwer gemacht?

Marlies Raich: Sportlich waren es bei mir immer wieder die Verletzungen. Natürlich war es immer nur ein gebrochener Fuß oder ein kaputtes Knie, also nichts, was wirklich tragisch ist. Aber sportlich waren das enorme Rückschläge. Auch wenn ich lieber darauf verzichtet hätte, gehören sie zu meinem Weg, meiner Karriere dazu, denn ich bin daran gewachsen und habe viel daraus gelernt. Hochs und Tiefs gehören zum Leben. Wie gesagt, das war in meinem Fall alles im Rahmen, aber es gibt natürlich auch Tragödien, die sind unvorstellbar schlimm und da fasziniert es mich schon sehr, wie Menschen diese oft mit einer unbeschreiblichen Lebenskraft meistern. Sie bewundere ich.

Benjamin Raich: Ich hatte natürlich auch nicht immer Glanzzeiten als Sportler. Im Endeffekt muss man aber auch solche schmerzliche Erfahrungen relativieren, im Vergleich zu anderen schlimmen Herausforderungen im Leben. Jedoch als aktiver Sportler darfst du natürlich nicht so denken. Da muss dein Sport das wichtigste sein, sonst kommst du nicht weiter und kannst gleich aufhören.

SN: Gab es Schicksalsschläge in eurem persönlichen Umfeld?

Benjamin Raich: Ich hätte eigentlich nicht zwei, sondern vier Geschwister. Zwei sind als Säugling bzw. als Kleinkind gestorben. Wenn ich mich da in meine Eltern hineinversetze, dann ist so etwas gar nicht mit Worten zu beschreiben. Wenn dir so etwas passiert und du meisterst es, dann kannst du, so glaube ich, alles andere im Leben auch schaffen.

Marlies Raich: Wenn man, wie wir jetzt, selber Kinder hat, kann man vielleicht ansatzweise spüren, was solche Eltern durchgemacht haben. Meine Tante – ich habe sie nicht mehr gekannt – ist in jungen Jahren vom Zug überfahren worden. Das war etwas, mit dem meine Großeltern bis zuletzt hart zu kämpfen hatten.

Hengl: Bitte seid kurz Mutmacher und Ansporn für all jene Menschen, die derzeit einen steinigen Weg vor sich haben?

Benjamin Raich: So etwas pauschal zu formulieren ist schwierig. Vielleicht lässt sich so mancher seelischer Schmerz ein bisschen lindern, indem man sich von vertrauten Menschen helfen lässt.
Jetzt muss ich etwas anderes ansprechen, wenn es um die Geburt eines Kindes geht. Wie oft heißt es bei den Leuten „Hauptsache gesund“, das is eigentlich falsch. „Hauptsache zufrieden“ müsste es heißen. Wie oft habe ich schon behinderte Menschen kennen gelernt, die zufriedener waren als wir Gesunde. Wer weiß, ob ein Mensch mit Behinderung sein Leben gern eintauschen würde.

Hengl: Ich würde mit keinem Menschen mein Leben tauschen wollen. Ich habe gelernt mein eingeschränktes Dasein mit allen Höhen und Tiefen zu lieben und auch meine Eltern haben mich von Anfang an innig geliebt, auch wenn ich für viele Menschen nicht gesund war. Sie waren dankbar und zufrieden über jeden kleinen Erfolg den ich erzielt habe. Zum Beispiel als ich das erste Mal alleine eine Kerze ausgeblasen habe.

Benjamin Raich: Eben. Das können wir uns in unserem kleinen Denken ja oft gar nicht vorstellen, welchen Stellenwert das Wort Zufriedenheit für manche Menschen hat.

Hengl: Marlies, du bist vor wenigen Wochen zum zweiten Mal Mama geworden. Josef und Jakob sind gesund zur Welt gekommen, ein unbeschreibliches Geschenk. Das Gesetzt stellt in Österreich die Abtreibung bei Verdacht auf Behinderung bis zur Geburt frei. Kannst du dir vorstellen, dass mich diese Diskriminierung als schwerbehinderte Frau unendlich traurig macht?

Marlies Raich: Bis zur Geburt? Das habe ich nicht gewusst.
Ich bin seit 2014 „Botschafterin für das behinderte Leben“ und trage als Zeichen meiner Wertschätzung das „Schmuckstück Natasha“, das ist ein Engel mit nur einem Flügel.
So viele Facetten wie ein Edelstein hat, so viele verschiedene Nuancen haben wir Menschen: Jeder Mensch ist anders – auch behinderte Menschen kann man erst kennenlernen, wenn man sich die Zeit nimmt, sie unvoreingenommen von verschiedenen Seiten zu „beleuchten".
Natürlich ist man unendlich froh, wenn das eigene Kind gesund ist, aber es ist auch wunderschön zu erleben, wie viele Familien ihr behindertes Kind mit all ihrer Liebe annehmen und mit der Herausforderung wachsen. Sie sind große Vorbilder für unsere Gesellschaft.

Hengl: Leider werden diese Familien viel zu oft allein gelassen.

Benjamin Raich: Was heißt allein gelassen?

Hengl: Von ihrer Heimatgemeinde, aber auch oft von den Vertretern der katholischen Kirche. Kürzlich wurde mir zugetragen, dass ein behindertes Kind im Salzburger Land nicht die Erstkommunion besuchen darf, weil es wegen seiner Behinderung, so glaubte es zumindest der Herr Pfarrer, nicht am Erstkommunionsunterricht teilhaben kann. Ein charmanter Anruf von mir hat dann alles in Wohlgefallen aufgelöst.

Benjamin Raich: Genau da muss man sich wehren! Ich weiß, das ist vielleicht leicht gesagt, aber man darf nie müde werden und muss die Leute ermutigen sich zu wehren.

Marlies Raich: Familien mit einem behinderten Kind müssen sich wahrscheinlich ein ganzes Leben lang wehren und irgendwann haben sie es dann satt immer wieder betteln zu gehen und um ihre Rechte zu kämpfen. Da muss man schon eine sehr starke Persönlichkeit sein um dies durchzustehen.

Hengl: Wenn ihr beide etwas auf dieser Welt verändern dürftet: Was wäre das?

Benjamin Raich: Wenn man die Zeitung aufschlägt, den Fernseher oder Radio aufdreht, dann kommt mir vor es sind nur mehr Wahnsinnige unterwegs. Das ist für mich alles nur schwer zu verstehen. Auf Leute zugehen und offener sein, das würde es um einiges leichter machen.

Marlies Raich: Bei den fast täglichen Terroranschlägen fragt man sich, wo das alles hinführt. Das sind natürlich weltpolitische Probleme, die wir schwer ändern können. Einfach gesagt würde unser aller Leben leichter sein, wenn man jedem ohne Vorurteil gegenübertritt und als allererst immer vor der eigenen Haustüre kehrt.

Hengl: Worauf kommt es eurer Meinung nach im Leben an?

Marlies Raich: Dass man zufrieden ist mit sich selbst, immer probiert das Beste zu machen, nach bestem Wissen und Gewissen handelt. Es geht auch darum den Moment zu genießen und nicht zu weit nach vorn zu schauen.

Benjamin Raich: Das muss jeder selbst rausfinden, das kann einem keiner abnehmen. Im Normalfall willst du etwas bewegen, etwas erreichen, etwas aufbauen. Wenn einem das mit Zufriedenheit gelingt und man dieses Glück erfährt, hat man viel erreicht.

SN: Haben sich während und nach der Karriere Dinge in eurem Leben relativiert?

Marlies Raich: (denkt nach) ... Ja. Als Sportler arbeitet man auf ein Ziel hin, man will erfolgreich sein und misst dem sehr, sehr viel Bedeutung und Stellenwert bei. Diese Wertigkeit sehe ich im Nachhinein anders. Ich hätte vielleicht gewisse Dinge ein bisschen lockerer nehmen können. Ich lebte schon sehr „in meiner eigenen Welt“ und hätte gewisse Momente sicher mehr genießen können. Ich war ja sehr erfolgreich und hab es so richtig eigentlich erst danach wahrgenommen. Während der Karriere hast du dafür keine Zeit oder du nimmst sie dir einfach nicht. Du hakst Ziele ab und bist sofort wieder auf das nächste fokussiert. Aber in gewisser Weise musst du das auch so machen, um erfolgreich zu sein.

Benjamin Raich: Als junger gibt es nur die Devise gewinnen, schneller sein als der andere. Das ist auch Voraussetzung, sonst wirst du nicht gut werden. Aber es ist sicher ein Vorteil, wenn du Erfolge einordnen kannst und dich nicht nur über den Sport und die Leistung definierst. Sonst hast du irgendwann ein Problem. Diese Einstellung entwickelt sich im Laufe der Karriere und man redet sich ein „es ist ja nur Skifahren und es geht um nichts“ (schmunzelt). Du musst die Balance finden.

SN: Bei allen großartigen Erfolgen haben Sie damit beeindruckt, wie Sie mit Niederlagen umgegangen sind. Sie haben zehn Tore vor dem Ziel den Gesamtweltcup verloren und sind gefasst und sympathisch Minuten später ihren Mann gestanden. Eben wegen dieser Einstellung?

Benjamin Raich: Es war eine riesige Enttäuschung und hat richtig wehgetan. Aber du musst das abhaken. Natürlich kannst du dich auch in einer Niederlage einigeln, aber du kannst die Chance und die Lösung sehen. Apropos Chance, auch wenn es nicht zum Thema passt: Einige sehen mit der Olympiabewerbung in Innsbruck vorrangig Negatives, alles soll angeblich teurer werden und so weiter. Ich sehe damit eine Chance für Innsbruck, Tirol und Österreich. (Raich ist wie Hengl Olympia-Botschafter).

Hengl: Auch da geht es wieder darum, sich weiter zu entwickeln, neue Türen zu öffnen und die öffentliche Kulisse der Weltwinterspiele - auch im Sinne der Menschen mit Beeinträchtigung - zu nutzen und damit einen weiteren Schritt in Richtung Veränderung der Gesellschaft zu gehen.

Hengl: Ich konnte mich als Kleinkind dank meiner roten Gummistiefel sehr schnell auf dem Hinterteil rutschend fortbewegen. Es war für mich wie Leistungssport. Wann hat sich euer Josef das erste Mal als Sieger gefühlt?

Marlies Raich: Der fühlt sich jeden Tag als Sieger (lacht). Er redet immer mehr. Es kommt ja fast jeden Tag etwas Neues von ihm, aber wahrscheinlich haben die Eltern mehr Gaudi dabei als er selbst.

Benjamin Raich: Das war, als er das erste Mal in seinem eigenen Sessel mit uns am Tisch gesessen ist. Da haben seine Augen gestrahlt.

Hengl: Welche Eigenschaften werden Eure Kinder brauchen, um ihr Leben zu meistern?

Marlies Raich: Im Prinzip braucht man bei allem, was man anpackt, eine gewisse Ausdauer. Wenn man aufgibt, wird man nicht viel erreichen. Ich wünsche mir, dass meine Buben einmal wissen, dass man sich Dinge erarbeiten muss. Über dies allem steht natürlich, dass sie eine Lebensfreude haben und glücklich sind.

Benjamin Raich: Ich werde versuchen, dass ich ihnen beibringe, dass man sich auf ein Gegenüber einlässt. Daran kann man wachsen, da wird man g‘scheiter. Ich frage heute noch meinen Vater, was er sich zu bestimmten Themen denkt. Wenn meine Buben Erfahrungen nutzen und daraus ihren eigenen Weg finden, dann werden sie ihr Leben meistern.

SN: In Eurer Situation ist puncto Erziehung speziell, wie Ihr die Kinder mit Eurem Bekanntheitsgrad vertraut machen werdet.

Benjamin Raich: Das wird sicher ein Thema. Wenn wir in Innsbruck spazieren gehen und der Papa hängt auf einem Plakat oder die Mama wird um ein Foto gebeten, dann ist das am Anfang sicher eigenartig für die Kleinen. Aber ich denke auch das wird mit der Zeit normal und da sind wir gefragt, dass wir in diesen Situationen das richtige Tun.

Marlies Raich: Wir sind beide auf einem Bauernhof aufgewachsen. Es war für mich immer normal, dass ich als gefeierter Star von einem Rennen heimgekommen bin und daheim im Haushalt mitgeholfen habe. So geerdet wollen wir auch unsere Kinder erziehen.

Zu den Personen:
Marlies Raich: Die Saalfeldnerin (36) ist mit 35 Siegen die erfolgreichste Slalomfahrerin der Ski-Weltcupgeschichte. Elf Medaillen, darunter zwei WM-Gold und drei Olympia-Silber, zieren ihre Karriere, die unter ihrem Mädchennamen Schild auch von vielen Verletzungen geprägt war.

Benjamin Raich: Der 39-Jährige aus Arzl im Tiroler Pitztal ist mit 36 Weltcupsiegen hinter Hermann Maier und Marcel Hirscher der dritterfolgreichste Österreicher. Er ist zweifacher Olympiasieger, dreifacher Weltmeister und gewann insgesamt 14 Medaillen.
Seit 2004 sind die beiden liiert, seit 2015 verheiratet und nun zweifache Eltern ihrer Söhne Josef (22 Monate) und Jakob (7 Wochen). Die Familie Raich lebt in Arzl.

Marianne Hengl: Die Weißbacherin (53) wurde mit einer Gelenksversteifung an allen vier Gliedmaßen geboren. Sie setzt sich österreichweit als Geschäftsführerin von RollOn Austria für die Rechte von Menschen mit Behinderungen ein. Sie hat 2012 das ORF-Fernsehformat „Gipfel-Sieg“ ins Leben gerufen, mehrere Bücher geschreiben und etliche Auszeichnungen erhalten (Österreicherin des Jahres 2008, Ehrenzeichen des Landes Tirol). M. Hengl ist seit 22 Jahren glücklich verheirtatet mit dem Innsbrucker Stefan Hengl.